von Jana Franke Frey, 50 Jahre, Theaterpädagogin und Lehrerin
Gastbeitrag aus Brandenburg
Eigentlich hatte ich Alma und ihre Mutter zum Halbjahres-Elterngespräch eingeladen. Wir verabredeten es für Mitte Dezember. Alma kommt aus einer großen, lebendigen Familie. Sie hat drei kleine Geschwister, ihre Mutter ist Hausfrau und nicht systemrelevant. Aber wer, wenn nicht Mütter, sind systemrelevant? Besser nicht drüber nachdenken. Dies ist ein Elterngespräch und mit folgender Struktur geplant: Als Mentorin leite ich das Gespräch. Mein Beisitzer, Almas Deutschlehrer und mein Kollege, führt Protokoll. Schulische Leistungen sind das Thema, das ist die Vorgabe.
Alles wie vorgesehen – aber dennoch eine große Diskrepanz
Ich habe Tee gekocht, auf dem Tisch steht eine Kerze, die Stühle stehen im Abstand, wie vorgegeben. In Vorbereitung auf das Gespräch schwatze ich kurz mit meinem Kollegen im noch leeren, großen Raum. Ohne Maske. Ich habe ein Attest, es liegt als Kopie in meiner Personalakte. Mein Kollege hat kein Attest. Als Alma und ihre Mutter den Raum betreten, setzt sich mein Kollege die Maske auf. Ich erkläre, warum ich keine Maske trage, rechtfertige mich für die ungleiche Gesprächssituation. Ich möchte eigentlich sagen, dass wir ohne Masken sprechen könnten, der Raum ist groß genug, aber ich wage es nicht. Ich will niemand in Konflikte bringen. Trotzdem herrscht eine erhebliche Schieflage. Ich maskenfrei und die Gesprächsleiterin, Mutter und Alma mit Mund- und Nasenschutz. Sie sehen mich komplett. Ich wünsche mir auch dieses Privileg. Ich sehe im Schatten von Stirn und Jochbeinen nur schwer ihre Augen. Mein Bauch spürt aber Almas Stimmung.
Das „andere“ Halbjahres-Elterngespräch
Ich entscheide, dass dieses Gespräch anders als geplant verlaufen soll. Ich werde in Almas Anwesenheit nicht mit der Mutter sprechen, sondern mit Alma. Die Mutter darf zuhören. Ich entscheide, dass ich alle Zeit der Welt für Alma habe und verschiebe meine Folgetermine. Mein Kollege muss da nun durch. Hier wird es nicht um schulische Leistungen gehen. Um was genau, weiß ich auch noch nicht, aber mein Bauchgefühl sagt mir aus Erfahrung, dass es ums Zuhören geht. Ich eröffne, suche Augenkontakt, ich suche ein Anlanden in Almas Augen. „Alma, wie geht es dir?“ Keine Eröffnungsfloskel, ich meine es ernst. Als hätte Alma auf diese Frage gewartet, schießen ihr Tränen in die Augen. Es entlädt sich ein Druck, der anscheinend schon länger keinen Platz mehr hatte. Darauf war ich nicht vorbereitet. Du musst jetzt hundert Prozent anwesend sein, sage ich zu mir, musst den kompletten Zugriff auf deine Erfahrung in authentischem Zuhören, persönlicher Sprache auf Augenhöhe abrufen.
„Ich will wieder in die Schule! Ich halte es nicht mehr aus!“
Ich spüre Angst vor den Gefühlen, die da auf mich zurollen. Zuhören, ermahne ich mich, werde ruhig und konzentriere dich auf den intimen Raum zwischen dir und Alma. Mein Kollege stört mich. Ich weiß, er hat Zeitdruck. Gefühle sind nicht sein Ding. Egal. Ausblenden. „Erzähl“, ermutige ich Alma. „Ich will wieder in die Schule! Ich halte es nicht mehr aus!“ Alma weint. Sie erzählt mir zwanzig Minuten lang von ihrer Sehnsucht nach ihren Freundinnen, von ihrer Sehnsucht mit ihnen schwatzen und lachen zu können, von ihrer Einsamkeit.
Almas Mutter spricht über die Magenkrämpfe und davon, dass Alma sich schon als kleines Kind erbrochen hat, wenn es ihr seelisch schlecht ging. Das hatte sie schon lange nicht mehr. Alma hat die letzten Tage mehrfach gekotzt.
Buchstäblich zum Kotzen
„Ja, es ist zum Kotzen“ bestätige ich, und frage, wie sich vorstellt, ihre Situation zu verbessern. „Ich möchte mich mit meinen Freundinnen verabreden, sie besuchen, bei ihnen schlafen, über mich reden. Aber das geht ja nicht, wegen Corona.“
„Telefonieren?“
„Das ist nicht das Gleiche. Ich mag telefonieren nicht, da entsteht immer so ein Druck in den Gesprächspausen.“
„Skypen?“
„Das ist doch genauso bescheuert!“
„Ok, Blödsinn, was könnte noch gehen?“
„Das ist ja das Schlimme, es geht nichts! Ich habe das Gefühl, als würde Corona niemals wieder aufhören!“
Alma schluchzt laut. Ich möchte sie umarmen, wage es aber nicht.
Der Druck ist unerträglich, sagt die Mutter
„Ständig kommen neue Aufgaben“, sagt Almas Mutter. „Dieser Druck ist unerträglich und wenn Alma etwas nicht schafft, fühle ich mich schlecht“. Das darf nicht sein, schreit es in mir, während ich mich bemühe, meine Gedanken auf später zu verschieben.
Ich schaue die Mutter fragend an: „Wie geht es Ihnen?“
Achselzucken. „Was soll ich machen, muss ja gehen.“
Ich erfahre, dass im obersten Stockwerk ihres Wohnhauses eine ältere Mitschülerin wohnt, mit der sich Alma mehrmals zum gemeinsamen Onlineunterricht getroffen hat. Super, ein Lichtblick. „Aber das dürfen wir auch nicht mehr.“
„Ja, weil ihr nichts gemacht habt, ihr habt nur gespielt“, wirft Almas Mutter ein.
„Was habt ihr denn gespielt?“, frage ich und bin neugierig, was eine 7.-Klässlerin mit einer 9.-Klässlerin spielt.
„Wir haben mein Zimmer in eine Höhle verwandelt.“
Ich lache. So kenne ich Alma. Diese blitzenden unternehmungslustigen Augen. Immer in Bewegung, Brücken schlagend im Schulhaus, kichernd und schwatzend, inmitten eines Mädchenpulks. Sie ist seit drei Monaten an unserer Schule. Ihre bisherige Schulbiographie war von Ausgrenzung und Unterdrückung geprägt. Das kann Alma sehr klar benennen. Inmitten ihrer Mädchengruppe fühlt sie sich aber endlich anerkannt und gemocht. Sie feiert die sicheren Beziehungen zu den neuen Lehrerinnen, fühlt sich gefördert und gesehen. Sie mag die Schule, freut sich jeden Montag zu kommen. Das erzählte mir Alma im November.
Es geht Alma schlecht und das akzeptiere bitte, du kluge Frau Lehrerin, ermahne ich mich.
Mich, die ich hier so schrecklich erwachsen sitze, und weiß, das ich nicht am nächsten Morgen zum Schulministerium fahre und dort berichte, dass eine meiner Schülerinnen gerade eine Depression entwickelt, dass sie bereits körperliche Symptome zeigt.
Entdeckung von Symptomen bei Kindern, aufgrund der Maske, endet im Spießrutenlauf
Ich denke an die Gefährdungsanzeige, die ich vor ein paar Wochen bei diversen Ämtern machte, nachdem mir Kinder von ihren Symptomen unter der Maske berichteten. Ein Spießrutenlauf, den ich mir nicht noch einmal zutraue. Ich fühle mich hilflos. Ich fahre nach Hause und spiele zum wiederholten Male meine Kündigung durch. Ich kann als Pädagogin die Verantwortung für diesen Distanz-Schwachsinn nicht mehr mittragen. Kein Pädagoge kann das. Eigentlich. Das Wissen von Gerald Hüther und Jesper Juul über gelingende Beziehungen galt für Friedenszeiten und bot scheinbar nur beruhigende, gescheite Textbausteine für Konzepte und Supervisionen. Wir brauchen eine Supervision, sofort, lange und dringend! Ach, das ist ja auch gerade verboten. Ich spaziere innerlich durch mein Team und ahne das einige Kolleginnen darüber nicht traurig sind. Ich formuliere einen Brief an sie. Natürlich schicke ich ihn nicht ab.
Gehirne abschalten und funktionieren
Liebes Team,
ich bin Beziehungsarbeiterin. Seit März erlebe ich plötzliche Beziehungsabbrüche zu meinen Schülern und zu euch. Darunter leide ich. Nicht nur das, ich finde es traumatisch. Bin ich die Einzige? Ich finde nicht mehr zurück zu euch. Meine Schüler glauben nicht mehr an mich. Sie haben Recht. Unsere Beziehungen haben ihren Wert verloren. Wir haben ihn bereitwillig hergegeben. Warum sollen sich meine Schüler auf etwas derart instabiles wie eine Beziehung, einlassen. Wir verteidigen unsere Beziehungen nicht. Wir spielen das Spiel der Normalität in einer irre gewordenen, fragilen Welt. Das ist krank! Unsere Schüler sollten selber denken lernen. Und plötzlich sollen sie ihre Gehirne abschalten und nur noch funktionieren? Wir jonglieren mit den verabredeten Werten, als wäre es egal, wenn sie zerschellen. Wir benutzen unsere Schüler gegen unsere Angst ein guter, krisenfester Lehrer zu sein… das ist unser Thema. Und nicht Mathematik oder Deutsch!
Meinen Lieblingsladen werde ich für lange Zeit nicht mehr besuchen
Am nächsten Morgen spaziere ich in unseren kleinen Dorfkonsum. Unsere liebenswerte Verkäuferin windet sich und sagt mir, dass sie jetzt wirklich mal mein Masken-Attest bräuchte, da die Leute schon fragen. Ich werde schlagartig traurig.
„Und“, frage ich sie: „Zeigst du den Leuten dann mein Attest vor, wenn sie fragen?“
Sie antwortet tatsächlich mit „Ja“.
Ich frage sie, was mit unserer Dorfgemeinschaft los ist. Schließlich sind wir doch alle Nachbarn. Wir sind es, die sich kümmern, wenn jemand krank ist, wenn das Auto kaputt ist. Ja, das täten wir allerdings, sagt die Verkäuferin, mit Abstand. und den Einkauf würden wir dem Kranken vor die Tür stellen. „Elsa?“ Ich sehe meiner lieben Verkäuferin tief in die Augen. „Mal ehrlich, würdest du das wirklich tun, mir seelenlos den Einkauf vor die Tür stellen?“ Elsa zögert: „Nee, natürlich nicht.“
Ich spüre meine Angst, Angst um das ängstliche, untertänige, ach so gehorsame Herz und hoffe, dass es durchhält. Bis wir uns die Zeit nehmen, alles aufzuarbeiten. Bis wir es wagen, unsere Sprache wieder aus dem Versteck zu holen. Bis wir zusammen weinen und uns schämen können über das, was mit uns geschehen ist. Mein Herz entscheidet in diesem Moment, dass es sich nicht weiter aufschieben lässt, seinen eigenen Weg zu gehen.
Es zieht los, ich höre es pochen. Da ist sie, die Lebendigkeit. Ich entscheide meine Schätze nicht mehr entwerten zu lassen, von einem System, das mich als Objekt und ausführendes Organ betrachtet. Ich werde meine Schätze dort platzieren, wo sie sich entfalten, wo sie Freundschaft schließen und wandeln können. Jetzt.